"Tröstet, tröstet mein Volk!" - Hoffnung ist eine Kraft im Dunkeln
Peter Bongard/EKHN
12.12.2025
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Liebe Gemeinde,
„tröstet, tröstet mein Volk“ – wir haben eben eine der berühmtesten Trostbotschaften der Bibel gesungen. Ich lese den ganzen Text aus dem 40. Kapitel des Propheten Jesaja:
„‚Tröstet, tröstet mein Volk!‘, spricht euer Gott.
„‚Tröstet, tröstet mein Volk!‘, spricht euer Gott. ‚Redet mit Jerusalem freundlich und predigt ihr, dass ihre Knechtschaft ein Ende hat, dass ihre Schuld vergeben ist; denn sie hat die volle Strafe empfangen von der Hand des HERRN für alle ihre Sünden.‘ Es ruft eine Stimme: ‚In der Wüste bereitet dem HERRN den Weg, macht in der Steppe eine ebene Bahn unserm Gott! Alle Täler sollen erhöht werden, und alle Berge und Hügel sollen erniedrigt werden, und was uneben ist, soll gerade, und was hügelig ist, soll eben werden; denn die Herrlichkeit des HERRN soll offenbart werden, und alles Fleisch miteinander wird es sehen; denn des HERRN Mund hat’s geredet.‘ Es spricht eine Stimme: ‚Predige!‘, und ich sprach: ‚Wie soll ich predigen? Alles Fleisch ist [doch] Gras, und alle seine Treue ist wie eine Blume auf dem Felde. Das Gras verdorrt, die Blume verwelkt; denn des HERRN Odem bläst darein.‘ Und die Stimme spricht: ‚Ja, Gras ist das Volk! Das Gras verdorrt, die Blume verwelkt, aber das Wort unseres Gottes bleibt ewiglich. Zion, du Freudenbotin, steig auf einen hohen Berg; Jerusalem, du Freudenbotin, erhebe deine Stimme mit Macht; erhebe sie und fürchte dich nicht! Sage den Städten Judas: Siehe, da ist euer Gott; siehe, da ist Gott der HERR! Er kommt gewaltig, und sein Arm wird herrschen. Siehe, was er gewann, ist bei ihm, und was er sich erwarb, geht vor ihm her. Er wird seine Herde weiden wie ein Hirte. Er wird die Lämmer in seinen Arm sammeln und im Bausch seines Gewandes tragen und die Mutterschafe führen.‘“ ---
Das Volk erlebt seine Lage wie eine öde weglose, trostlose Wüste – und wie eine karge endlose Steppe. Die Wüste wächst. Die Lebensfeindlichkeit der Steppe nimmt zu. Es ist schwer, etwas zu finden, das Mut zum Leben gibt und Hoffnung auf eine bessere Zeit. Eine schwermütige Traurigkeit hat sich in den Kleidern festgesetzt.
Krise reiht sich an Krise.
Es scheint mir, als hätte der Prophet unsere Tage gekannt. Krise reiht sich an Krise. Die weltpolitische Lage ist angespannt. In Deutschland wartet die Wirtschaft auf den Aufschwung. Die Spannungen in der Gesellschaft scheinen unüberbrückbar. Nächstenliebe steht nicht hoch im Kurs. Vielen Menschen fällt es schwer, Hoffnung und Zuversicht zu behalten.
In diese Situation hinein hört der Prophet Gottes Stimme: „Tröstet, tröstet mein Volk“. Wie kann das Volk, das von Wüste und Steppe umgeben ist, getröstet werden? Ist das wieder einmal die Vertröstung der Religion auf ein besseres Jenseits, um das Jammertal hier irgendwie durchzustehen? In der Menschheitsgeschichte wurde Religion ja oft so verwandt, als Vertröstung auf ein besseres Jenseits. Friedrich Nietzsche, dessen 125. Todestag in diesem Jahr begangen wurde, wuchs als Kind mit diesen Vertröstungen auf. Sein Vater war nach langer, elendiger Krankheit gestorben und kurz darauf sein kleiner Bruder. Nietzsche war keine fünf Jahre alt. Seine noch ganz junge Mutter fand Trost nur darin, die Verstorbenen dereinst im Himmel wiederzusehen. Sie hielt das für ihren einzigen Trost und betete in ihrem Tagebuch: „Ja treuer Gott, lass mich täglich besser und frömmer werden, damit ich einmal die Freude der himmlischen Vereinigung [mit meinem Mann und Kind - sie ist] mein einziger Trost [-] in vollster Klarheit genießen möge, worauf ich mich sehne.“ Nietzsches junge Mutter erwartete keinen Trost mehr in diesem Leben. Ihr Kind Friedrich übernahm diese Jenseitssehnsucht auch für sich. Später, als Erwachsener, hielt Nietzsche sie für eine lebensfeindliche Flucht, die davon abhält, das Diesseits zu verbessern.
„Tröstet, tröstet mein Volk“ – das könnte auch ein Schönreden sein: ‚Es ist doch alles nicht so schlimm. Lach doch mal. Stell dich nicht so an. Das ist doch alles schon so lange her.‘ Aber es gibt eine Traurigkeit, die sich mit solchen Aufrufen nicht verändern lässt.
Wie sollte die Endlichkeit des Lebens tröstlich sein?
Die Stimme, die der Prophet hört, lässt nicht locker: „Predige, sag etwas Tröstendes“. Aber der Prophet ist ehrlich: Ihm ist nicht danach zumute, etwas Tröstendes zu predigen. „Wie soll ich etwas Tröstendes predigen angesichts dessen, wie das Leben ist?“ Dem Propheten steht die Vergänglichkeit menschlichen Lebens deutlich vor Augen: Wie Gras verdorrt das menschliche Leben schnell. Menschen mögen vielleicht denken, sie seien in ihrer Macht und Größe unsterblich. Sie mögen denken, was sie tun, habe Bestand für die Ewigkeit. Aber niemand lebt ewig. Jedes Leben wird durch den Tod in seine Schranken gewiesen. Selbst der mächtigste Herrscher muss eines Tages sterben. Das mag angesichts von Tyrannen tröstlich sein. Doch auch die Guten müssen sterben. Wie sollte die Endlichkeit des Lebens tröstlich sein?
Dem Propheten steht auch die Vergänglichkeit menschlicher Treue bedrückend vor Augen. Das Volk hatte Gott versprochen, sich an Gottes Willen auszurichten und die Welt immer gerechter und friedvoller zu gestalten. Aber lange hat dieses Versprechen nicht gehalten.
Frieden und Gerechtigkeit sind stets gefährdete Gestalten
Auch hier kommt es mir so vor, als kennt der Prophet unsere Situation. Noch vor wenigen Jahrzehnten sah es so aus, als könnte eine gerechte und friedvolle Welt gelingen. Der Politikwissenschaftler Francis Fukuyama rief 1989 das „Ende der Geschichte“ aus, weil sich die liberale Demokratie überall durchsetzen werde. Heute müssen wir ehrlich eingestehen, dass autoritäre Regime auf dem Vormarsch sind und Frieden und Gerechtigkeit sich als stets gefährdete Gestalten erwiesen haben. Wie soll man Menschen etwas Tröstendes sagen, wenn diese Welt im besten Fall ambivalent ist, aber in letzter Zeit Unfrieden und Ungerechtigkeit zunehmen?
Die Stimme, die der Prophet hört, gesteht das zu: „Das menschliche Leben ist endlich, die Treue der Menschen verwelkt.“ Dem setzt sie ein großes Aber entgegen: ‚Aber das Wort unseres Gottes bleibt ewiglich.‘ Grund für Mut und Zuversicht ist Gottes unverrückbare Zusage, bei uns zu sein, auch jetzt. Dies ist Trost jetzt: „Siehe, da.“ „Da ist Gott der Herr! Gott kommt.“
Die Botschaft des Advents
Das ändert alles. Die Menschen sind nicht allein mit ihrer Wüste und ihrer Steppe. Gott kommt auch in ihre, Gott kommt auch in unsere Situation. Das ist die Botschaft des Advents. Menschen feiern seit 2000 Jahren Advent, weil sie immer wieder die Erfahrung gemacht haben, dass diese Zusage wahr ist und Gott in jede Weltlage kommt.
Vor den Augen des Propheten entfaltet sich nun eine Landschaft, in der Gott seine Herde wie ein guter Hirte weidet. Aus der lebensfeindlichen Wüste ist eine fruchtbare Weide geworden (Berges). Es ist genug da für alle. Dieser Hirte lässt auch die Schwächsten und Langsamsten nicht zurück. Gott nimmt die Lämmer, die zu klein für die lange Wegstrecke sind, behutsam in seinen Arm. Und er führt die Mutterschafe, die durch das Säugen ihrer Lämmer geschwächt sind.
Ein starkes Hoffnungsbild
Das ist ein starkes Hoffnungsbild. Statt öder wegloser Wüste und karger endloser Steppe ein Hirte und eine Herde mit neugeborenen Lämmern. Das Bild will uns das Hoffen lehren. Wir sind mit dieser Welt nicht allein. Gott kommt. In einer problemlosen, glücklichen, in einer heilen und hellen Welt bräuchte man keine Hoffnung. Hoffnung ist eine Kraft im Dunkeln. In der Hoffnung wendet man den Blick vom Dunkel weg dorthin, wo man Helligkeit entdeckt. Hoffnung entsteht durch das aufgehende Licht, durch das Vertrauen, dass Gott kommt, auch in diese dunkle, wüste Welt.
Sehnsucht nach einer helleren Welt
Hoffnung gibt die Kraft, gegen das Dunkel und die Wüste zu arbeiten. Hoffnung ist kontrafaktisch. Sie findet sich nicht mit den Umständen ab. Wir können das Hoffen wieder lernen; Hoffnung macht aus unserer Sehnsucht nach einer helleren, heileren Welt Tatkraft; wer hofft, schaut sich in der vom Licht schon ein wenig erhellten Dunkelheit um und erkennt, dass da auch noch andere sind, die hoffen; wer hofft, verbündet sich mit anderen Hoffenden. (Ernst Bloch)
Der Prophet, der den guten Hirten mit seiner Herde sieht, ist ein starker Hoffender. Denn er glaubt der Zusage. „Siehe, da ist Gott der Herr. Gott kommt gewaltig.“ Der Prophet glaubt daran, dass Gottes Wort verlässlich ist und dass Gott in diese Welt kommt.
Wie kann man es schaffen, dieser Zusage zu glauben?
Wie kann man es schaffen, dieser Zusage zu glauben, wenn die Welt doch so anders aussieht? Es ist gut, wenn andere mir zu Trost- und Freudenbotinnen werden, die mir helfen, das zu glauben. Solche Trost- und Freudenbotinnen können die Texte der Bibel sein. Denn sie sind von Menschen geschrieben, die das Kommen Gottes in diese Welt schon erlebt haben. Ihre Autoren haben schon erlebt, wie aus der Wüste wieder fruchtbares Land wurde – und wie in die Dunkelheit wieder Licht kam.
Und: Trost- und Freudenbotinnen können wir uns alle gegenseitig sein. Wenn wir uns helfen, nicht nur auf das zu sehen, was schwer ist, sondern auch auf das, wo wir den guten Hirten schon kommen sehen, weil etwas besser wird in dieser Welt. So auf die Welt zu sehen, ist kein Schönreden, sondern ein genaues Hinsehen. Besser wird die Welt dort, wo wir Menschen helfen; wo wir Menschen trotz ihrer Schwachheit nicht zurücklassen. Solche Erfahrungen menschlicher Hilfe können Erfahrungen der Hilfe Gottes sein. Auch sie stärken das Vertrauen, dass der gute Hirte kommt.
Keine Vertröstung, sondern Zuversicht
Sie merken es schon: Ein solcher Glaube an den guten Hirten ist keine Vertröstung auf ein besseres Jenseits, sondern ein Glauben, der Mut und Zuversicht gibt, das Diesseits zu verbessern.
Der Theologe Dietrich Bonhoeffer hat dies - mitten im Krieg, nach 10 Jahren Naziherrschaft - wunderbar formuliert: „Es gibt Menschen, die es für unernst, Christen, die es für unfromm halten, auf eine bessere irdische Zukunft zu hoffen und sich auf sie vorzubereiten. Sie glauben an das Chaos, die Unordnung, die Katastrophe als den Sinn des gegenwärtigen Geschehens und entziehen sich in Resignation oder frommer Weltflucht der Verantwortung für das Weiterleben, für den neuen Aufbau, für die kommenden Geschlechter. Mag sein, dass der Jüngste Tag morgen anbricht, dann wollen wir gern die Arbeit für eine bessere Zukunft aus der Hand legen, vorher aber nicht.“
Predigt von Prof. Dr. Christiane Tietz am 3. Advent, 14.12.2025 im Alten Dom St. Johannis Mainz.
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